Neues Rathaus Pforzheim bei Nacht - brutalistische Architektur mit beleuchteten Fenstern

Brutalismus als Architekturstil in Pforzheim

Pforzheim nimmt in der deutschen Architekturgeschichte eine besondere Stellung ein: Als eine der am stärksten durch alliierte Luftangriffe zerstörten Städte Deutschlands wurde sie nach 1945 radikal modern wiederaufgebaut.

Einführung

Pforzheim nimmt in der deutschen Architekturgeschichte eine besondere Stellung ein: Als eine der am stärksten durch alliierte Luftangriffe zerstörten Städte Deutschlands wurde sie nach 1945 radikal modern wiederaufgebaut. Die Zerstörung am 23. Februar 1945, bei der etwa 17.600 Menschen starben und 80 bis 100 Prozent der Innenstadt vernichtet wurden, schuf die Voraussetzung für ein architektonisches Experimentierfeld der Nachkriegsmoderne. Diese Ausgangslage erklärt, warum Pforzheim heute als „Stadt der Nachkriegsmoderne" gilt und zahlreiche brutalistische sowie modernistische Bauwerke beherbergt.

Grundlagen des Brutalismus

Entstehung und Begriffsherkunft

Der Begriff Brutalismus leitet sich vom französischen „béton brut" (roher Beton, Sichtbeton) ab und wurde erstmals vom schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier verwendet, um den sichtbar belassenen Beton an der Unité d'Habitation in Marseille (1946–1952) zu beschreiben. Die Bezeichnung hat somit nichts mit dem deutschen Wort „brutal" zu tun, obwohl negative Konnotationen wie „grausam", „unmenschlich" oder „monströs" im Deutschen überwiegen.

Der britische Architekturhistoriker Reyner Banham verankerte den Begriff 1955 durch seinen Essay „The New Brutalism" in der Zeitschrift Architectural Review in der Architekturdebatte. Das britische Architekten-Ehepaar Alison und Peter Smithson hatte den Begriff bereits 1953 für ihr Projekt „House in Soho" verwendet und 1954 als „New Brutalism" zur Bewegung gegen den erstarrten Modernismus ausgerufen.

Charakteristische Merkmale

Der Brutalismus zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:

  • Sichtbeton als dominierendes Material in verschiedenen Schalungsvarianten
  • Geometrische Formen – klotzartige, massive Strukturen mit klar definierten Konturen
  • Betonung der Konstruktion – freiliegende Installationen und demonstrative Tragwerke
  • Funktionalität über Ästhetik – Verzicht auf dekorative Elemente
  • Soziale Architektur – öffentliche Bauten sollten der Gemeinschaft dienen

Die Blütezeit des Brutalismus lag zwischen den 1960er und frühen 1980er Jahren. Diese Architektur war die bauliche Antwort auf den Aufbruch der Nachkriegszeit, ermöglicht durch die scheinbar unbegrenzte Ressourcenverfügbarkeit zwischen Kriegsende und Ölkrise (1973).

Brutalistische Architektur in Pforzheim

Neues Rathaus Pforzheim (1968–1973)

Das Neue Rathaus gilt als das bedeutendste Beispiel brutalistischer Architektur in Pforzheim und wird als „einmalig – auch für Deutschland" beschrieben. Der zweiflügelige Baukomplex mit vorgelagertem Ratssaal entstand nach einem städtebaulichen Wettbewerb 1959 und einem engeren Wettbewerb 1962/63 nach Entwürfen des Stuttgarter Architekten Rudolf Prenzel.

Das Gebäude zeichnet sich durch Sichtbeton in verschiedenen Varianten aus: schalungsraue Stützen, vorgefertigte Brüstungselemente, Ortbeton im Haupttreppenhaus, pergolaartige Dachaufbauten und monumentale Reliefs an den Stirnflächen. Besonders bemerkenswert sind die Stützen am Ratssaalgebäude, die im Grundriss aus zwei über Eck gestellten Quadraten gebildet sind und sich je nach Blickwinkel des Betrachters optisch verändern – ein Sinnbild für „das sich wandelnde menschliche Leben".

Architekt Peter W. Schmidt bezeichnet das Rathaus als „vortreffliches Beispiel für eine Zeit, in der sich Optimismus und Aufschwung in einer expressiven, fast skulpturalen Architektursprache Bahn gebrochen hat". Das Gebäude wurde 2005 unter Denkmalschutz gestellt, wobei die Denkmalbegründung besonders die Innenraumgestaltungen und deren Sachgesamtheit mit Gebäude und Platz hervorhebt.

Reuchlinhaus (1957–1961)

Das Reuchlinhaus im Stadtgarten ist zwar kein klassisch brutalistisches Bauwerk, sondern wurde im „International Style" errichtet, zeigt aber als erster deutscher Museumsbau der Nachkriegszeit wichtige Charakteristika der Epoche. Der Architekt Manfred Lehmbruck (1913–1992), Sohn des berühmten Bildhauers Wilhelm Lehmbruck, gewann 1953 den Wettbewerb.

Der Gebäudekomplex besteht aus vier pavillonartigen, quaderförmigen Baukörpern, die durch eine zentrale Eingangs- und Treppenhalle mit freischwingender Wendeltreppe verbunden sind. Die unterschiedlichen Pavillons weisen verschiedene Materialien auf:

Pavillon Materialität
Bibliothekspavillon Sichtbeton mit großen Fensterfronten
Ausstellungshalle Stahl-Glas-Konstruktion
Stadtmuseum Regionaler Sandstein
Schmuckmuseum Künstlerisch bearbeitete Aluminiumplatten

Das Reuchlinhaus wurde als Kulturdenkmal ausgewiesen und 2024 von der Denkmalstiftung Baden-Württemberg zum „Denkmal des Monats November" ernannt. Die Sanierung der Glasfassade wurde mit 35.000 Euro aus Mitteln der Lotterie GlücksSpirale unterstützt.

Fritz-Erler-Schule (1972–1976)

Die Fritz-Erler-Schule wurde vom renommierten Stuttgarter Büro Behnisch & Partner entworfen, das durch den Olympiapark München (1967–1972) internationale Bekanntheit erlangte. Am 23. März 1972 vergab das Preisgericht den 1. Preis an den Entwurf des Büros, das auch den Zuschlag für die Bauausführung erhielt.

Das Schulgebäude steht heute als Kulturdenkmal unter Schutz und repräsentiert die charakteristische Architektursprache von Behnisch & Partner in der Nachkriegszeit.

Weitere bedeutende Bauten

Der Hauptbahnhof Pforzheim (1958), entworfen von Helmuth Conradi, ist ein herausragendes Beispiel der 50er-Jahre-Architektur und steht seit 1989 unter Denkmalschutz. Er zeigt die Leichtigkeit und Offenheit der Nachkriegsmoderne mit seinem scheinbar schwebenden Flugdach und goldeloxierten Aluminiumplatten als Hommage an die „Goldstadt".

Das Tronser-Gebäude wird von Experten als weiteres wichtiges brutalistisches Bauwerk genannt, besonders wegen seiner elliptischen Stütze und der einbetonierten Festverglasung im Erdgeschoss.

Weitere diskutierte Objekte sind das Lutherhaus am Schlossberg und das Reuchlin-Gymnasium, die als potenzielle „baukulturellen Schmuckstücke" eine vorbehaltlose Prüfung verdienen würden.

Denkmalschutz und Erhaltung

Denkmalgeschützte Bauten der Nachkriegsmoderne

Die Denkmalpflege in Pforzheim hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt den Kulturdenkmalen der 1960er und 1970er Jahre gewidmet. Das Erscheinungsbild dieser Bauten ist teils skulptural, teils kubisch streng, geprägt von Sichtbeton, Faserzement und Glas.

Zu den denkmalgeschützten Bauten der Nachkriegsmoderne in Pforzheim zählen:

  • Neues Rathaus (Denkmalschutz seit 2005)
  • Reuchlinhaus (Kulturdenkmal)
  • Fritz-Erler-Schule (Kulturdenkmal)
  • Hauptbahnhof (Denkmalschutz seit 1989)
  • Technisches Rathaus – bildet eine denkmalgeschützte Gruppe mit Altem und Neuem Rathaus

Herausforderungen und Kritik

Der Umgang mit brutalistischer Architektur ist kontrovers. Architekt Peter W. Schmidt kritisiert: „Denkmalpflege setzt oft zu spät ein" und endet häufig am Ende des 19. Jahrhunderts, anstatt das bauliche Erbe des 20. Jahrhunderts zu sichern. Viele Gebäude wurden „unglücklich überformt" – beim Neuen Rathaus wurde etwa der Beton überstrichen, was die Häuser „noch unglücklicher und dominanter in Erscheinung treten lässt".

Die energetischen Anforderungen der Gegenwart machen reine Betongebäude, einschalig gebaut und monolithisch gegossen, heute so gut wie nicht mehr möglich. Dies erhöht den Erhaltungsdruck auf bestehende Bauten.

Initiative SOS Brutalismus

Die internationale Kampagne „SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster!" hat das Bewusstsein für brutalistische Architektur geschärft. Die Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt (November 2017 bis April 2018) verzeichnete mit 47.000 Besuchern einen großen Erfolg. Auch Pforzheimer Bauten wie das Neue Rathaus sind Teil der internationalen Datenbank, die über 2.000 brutalistische Bauwerke weltweit erfasst.

Städtebaulicher Kontext

Wiederaufbau nach 1945

Pforzheim war deutschlandweit die innerstädtisch am radikalsten zerstörte Stadt. In dieser Situation wurde der Wiederaufbau als „Chance" begriffen, die als unzureichend empfundene Verkehrssituation und städtebauliche Anlage der Vorkriegszeit nach modernen Kriterien zu gestalten. Der Stadtplaner Otto Ernst Schweizer (1890–1965), Ordinarius der TH Karlsruhe, bestimmte den neuen Bebauungsplan maßgeblich mit.

Der Neuaufbau folgte dem Leitbild der „gegliederten und aufgelockerten Stadt" im Geiste der Charta von Athen (1933). Eine neue Sichtachse als Grünzug vom Schlossberg über den Marktplatz zur Enz prägt bis heute das Stadtbild.

Bewertung der Nachkriegsarchitektur

Die anfängliche Begeisterung für die moderne Architektur wandelte sich im Laufe der Jahrzehnte zu Ablehnung. „Betonmonster", „Bunkerarchitektur" und „hässliche menschenverachtende Baubrutalitäten" – so werden die Gebäude heute gemeinhin wahrgenommen. Doch Experten betonen: Die räumliche Qualität, die hohe Sensibilität in der Durcharbeitung und die unglaubliche Detailvielfalt dieser Gebäude verdienen Anerkennung.

Pforzheim sucht bis heute nach seiner architektonischen Identität zwischen dem Erbe der Nachkriegsmoderne und dem Wunsch nach Stadtentwicklung. Das 2023 erschienene Buch zum 50-jährigen Jubiläum des Neuen Rathauses würdigt es als „architektonisches Juwel, das in der Geschichte und Identität unserer Stadt eine besondere Rolle spielt".

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