Innenstadt Ost Pforzheim – Vergangenheit, Gegenwart und Neueste Entwicklungen
Die Innenstadtentwicklung-Ost ist ein ambitioniertes Stadtentwicklungsprojekt, das seit 2012 geplant wird. Vom Masterplan über das Investorenauswahlverfahren bis zur aktuellen Realisierung – eine umfassende Darstellung der Entwicklung, Herausforderungen und Kritik.
Inhaltsverzeichnis
Historischer Hintergrund und Planung (2012–2014)
Die Innenstadtentwicklung-Ost geht auf einen Masterplan für Pforzheim zurück, der 2012 unter dem Motto „Pforzheim Zukunft Gestalten" erarbeitet wurde. Im Herbst 2012 fand ein städtebauliches Planungswerkstatt-Verfahren statt, an dem fünf renommierte Planungsbüros beteiligt waren: Christoph Kohl | KK Architekten (Berlin), Van Dongen Koschuch (Amsterdam), ASPlanungsgesellschaft (Pforzheim), Léon Wohlhage Wernik (Berlin) und Rhode Kellermann Wawrowsky (Düsseldorf).
Auf dieser Grundlage wurde ein Rahmenplan durch die Büros RKW (Düsseldorf) und Christoph Kohl Stadtplaner Architekten (Berlin) entwickelt. Der Gemeinderat beschloss diesen Rahmenplan am 18. Februar 2014.
Zentrale Planungsziele
Das Konzept verfolgte eine Transformation von einer modernistischen zu einer europäischen Stadt, mit folgenden Elementen:
- Kleinteilige Parzellenstruktur statt breiter, überdimensionierter Straßenfronten
- Wiederherstellung von Urbanität und Lebendigkeit
- Beachtung der Maßstäblichkeit und der historischen Stadtstruktur
- Zurückholen des Wohnens in die Innenstadt (zentral für die Belebung)
- „Perlenkette" interessanter Freiräume zwischen Bahnhof und Enzufer: Grünraum am Schlossberg, räumlich klarer gefasster Marktplatz, Pocket-Park, ebenerdiger Stadtboulevard, Enzufer-Integration
- Entfall der Schloßbergauffahrt zugunsten besserer Anbindung der Schloßkirche
Das Projektgebiet wurde in sechs Baufelder eingeteilt. Ein zentrales Element war die geplante Entfernung überdimensionierter Verkehrsflächen und das Schaffen von einer „Kulturachse".
Das Schlossberghöfe-Projekt: Investorenauswahlverfahren (2014–2018)
Wettbewerblicher Dialog und Ten Brinke
Nach dem Rahmenplan startete die Stadt ein Investorenauswahlverfahren. Jahrelang wurde geplant und diskutiert, bis im Oktober 2018 der Pforzheimer Gemeinderat in nicht-öffentlicher Sitzung den Weg freimachte für ein Investorenprojekt der niederländischen Ten Brinke Gruppe.
Das ambitionierte Konzept sah eine Investition von etwa 100 Millionen Euro vor. Der Investor ten Brinke plante vier massive Neubauten zwischen Stadtbibliothek und Schlossberg mit einer Gesamtfläche von ca. 30.000 m²:
- Neues Technisches Rathaus mit Infopunkt Bauen
- Drei weitere Gebäude mit Wohnungen (ca. 140 Wohnungen geplant)
- Einzelhandel, Gastronomie, zwei Kitas, Kulturraum
- Zwei Tiefgaragen
- Freiräume und Straßen (ca. 14.500 m²)
Die Stadt selbst leistete eine Vorfinanzierung von 8,6 Millionen Euro: Sie kaufte Grundstücke von der evangelischen Kirche und die sogenannten „Würfel" (Gebäude an der Östlichen Karl-Friedrich-Straße).
Realität des Projekts: Verzögerungen und Herausforderungen (2018–2025)
Baubeginn und Verzögerungen
Der Baubeginn war für Januar 2022 geplant und fand tatsächlich statt. Das erste Gebäude – das Neue Technische Rathaus – sollte fertiggestellt werden und war Mai 2025 geplant.
Doch wie ein PZ-Chefredakteur kolumnistisch anmerkte, führten Krieg (Ukraine), Seuche (Corona), Inflation und Materialknappheit dazu, dass sich die Bebauung verzögerte und die Kosten anstiegen. Der Investor nutzte einen Vertragspassus, um die Stadt – als Mieter – zur Nachverhandlung zu zwingen.
Bislang realisierte Fortschritte (bis November 2024)
- Richtfest: März 2024 für den ersten Neubau
- Rohbau abgeschlossen: September 2024
- Geplante Übergabe des ersten Gebäudes: Ende 2024/Frühjahr 2025
- Abbruch des Alten Technischen Rathauses: September 2024 begannen die Abrissvorbereitungen
- Dezember 2024 – Januar 2025: Übergabe des ersten Neubaus
Im Januar 2025 berichtete die Presse, dass die erste Phase der Schlossberghöfe zügig voranschreitet mit geplanter Fertigstellung für Mai 2025.
Kritische Stimmen und Bedenken
Marlowes Analyse: Paradigma-Verlust und Identitätsverlust
Die Online-Plattform Marlowes führte eine fundamentale kritische Analyse der Innenstadtentwicklung-Ost durch. Die zentrale Kritik lautet: Das Projekt wiederholt denselben Fehler der 1950er Jahre – die Formel „neu = besser".
Kernpunkte der Kritik:
- Abriss statt intelligenter Weiterentwicklung: Das Technische Rathaus (Denkmal, 1956–1957 erbaut), die „Würfel" an der Östlichen Karl-Friedrich-Straße und das evangelische Gemeindezentrum am Schlossberg (einschließlich Kita und Chorprobenraum) werden abgerissen
- Destruktion von Identität: Durch den Abriss verliert Pforzheim seine einzigartigen, stadtbildprägenden Qualitäten der Nachkriegsmoderne – gerade in einer Stadt, die ohnehin unter Identitätsverlust leidet
- Pseudo-Modernität statt Authentizität: Der Investor Ten Brinke wird Pforzheim „jenes pseudo-moderne Erscheinungsbild bescheren, das aus x-beliebigen Fußgängerzonen unzähliger Großstädte bekannt ist"
- Verpasste Alternative: Statt mit den Beständen zu arbeiten (sanieren, umbauen, nachverdichten, kleine Schritte), folgt man wieder einer großmaßstäblichen Intervention
- Paradoxes Planungsdenken: Der Masterplan 2012 versprach, Pforzheims architektonisches Erbe zu bewahren und es intelligent weiterzuentwickeln. Diese Zusage wird durch das Projekt negiert
Weitere konkrete Bedenken (2022–2025)
Mietpreise und Wohnungspolitik: OB Boch und Investor Ten Brinke bemühten sich 2022, Bedenken über die Höhe der Mietpreise zu zerstreuen. Nach intensiven Verhandlungen wurde 2022 eine Lösung gefunden: „die Stadt – trotz eingetretener Baupreiserhöhungen – einen angemessenen Mietpreis" sicherte.
Einzelhandelsflächen-Leerstand: Im November 2025 trat ein gravierendes Problem auf – der Investor strich etwa 1.800 m² Einzelhandelsflächen, weil die Nachfrage nach Einzelhandelsflächen fehlte. Ursprünglich geplant waren Erdgeschosse mit Discounter, Bio-Markt, Drogerie und Fachmarkt. Dies wurde zu Garagen und Wohnungen umfunktioniert.
Gemeinderats-Skepsis: Im November 2025 lehnte der Planungsausschuss des Gemeinderats mit 5 Gegenstimmen bei 4 Ja-Stimmen und 2 Enthaltungen einen Vorschlag der Planer ab. Dies zeigt, dass sich „Stadträte wollen bei Schlossberghöfen ‚innehalten'".
Denkmalschutz-Konflikt: Das Alte Technische Rathaus
Das Alte Technische Rathaus (1956–1957 erbaut, denkmalgeschützt) war ein zentraler Konfliktpunkt:
- Oktober/November 2025: FDP-Landeschef und Pforzheimer Stadtrat Hans-Ulrich Rülke stellte eine Kleine Anfrage an die Landesregierung, ob die Abbruchgenehmigung widerrufen werden könne
- November 2025: Ein Bericht der Pforzheimer Zeitung besagte, dass „der Grund für Abriss-Erlaubnis trotz Denkmalschutz entfällt" – der Rückbau hatte bereits begonnen
- Beispiel Leipzig: Parallel in Leipzig ging man einen anderen Weg: Dort rückte die Grüne-Liste-Partei ab vom Abriss des alten Technischen Rathauses und beschloss stattdessen 2025, den Rohbau zu erhalten und zu sanieren
Neueste Entwicklungen: Dezember 2025
Ankauf des Neuen Technischen Rathauses (November 12, 2025)
OB Peter Boch informierte den Ältestenrat des Gemeinderats, dass die Stadt den Ankauf des Technischen Rathauses von Investor Ten Brinke vorbereitet:
- Geplanter Ankauf: 1. April 2028
- Vorlage im Gemeinderat: Februar 2026
- Bis dahin: Weiterhin Mietverhältnis (12.500 m² Nutzfläche auf 8 Etagen)
Finanzielle Begründung: „Auf lange Sicht ist der Kauf die deutlich sinnvollere Lösung": Nach 30 Jahren würden Mietzahlungen das 1,5-fache des Kaufpreises übersteigen; nach 50 Jahren das Dreifache.
Boch betont: „Das Technische Rathaus bildet im Ensemble der Schlossberghöfe einen wichtigen Ankerpunkt" und sichert damit „nicht nur einen zentralen Verwaltungsstandort, sondern stärken auch die Zukunftsfähigkeit unserer Innenstadt".
Planungsausschuss lehnt Vorschlag ab (November 26/27, 2025)
Der Planungsausschuss zeigte sich skeptisch gegenüber der Weiteren Umsetzung, lehnte einen Planungsvorschlag der Investor-Planer mit 5 zu 4 Stimmen ab. Dies signalisiert, dass Stadträte erwägen, beim Projekt „innezuhalten".
Der Gemeinderat diskutiert weiterhin, wie die Vernetzung mit dem benachbarten C&A-Gebäude gelöst werden kann. OB Boch und sein Baubürgermeister betonen, dass beide Entwicklungen – die Schlossberghöfe und das ehemalige C&A-Gebäude – „nicht isoliert betrachtet werden" können.
Optimistische Stimmen und Befürwortungen
Offizielle Stadt-Rhetorik
Die Stadt Pforzheim sieht in dem Projekt Chancen, die ein Scheitern nicht böte:
- Schaffung von Wohnraum für unterschiedliche Klientel und Preislagen
- Kleinteiliger Einzelhandel, Kulturraum, Kita
- Freiräume, die zu Aufenthalt und Kommunikation einladen
- Urbane Mischnutzung, die die gesamte Innenstadt belebt
Bei einem Scheitern würde die Stadt nach Schätzungen mindestens 23 Millionen Euro zusätzlich für die Sanierung des altersschwachen Technischen Rathauses aufbringen müssen – ohne dass damit mehr als ein „niedriger bis mittlerer Standard" erreicht würde.
Ten Brinke und City-Marketing
Der Investor betont, dass die Schlossberghöfe „mit ihrem Mix aus kleinem und großem Einzelhandel, Gastronomie, Kitas, urbanem Wohnraum, Büros und schön gestalteten Freiräumen" ein „Stück neue Stadt" schaffe, das „Impulse für das gesamte Zentrum setzt".
Das Wirtschaft Stadtmarketing Pforzheim (WSP) sieht das Projekt als wesentlich für die Stärkung der Resilienz und Krisenbewältigung der Innenstadt, insbesondere durch die Überwindung der Barriere der Zerrennerstraße und die Schaffung eines durchgängigen Stadtraums.
Sanierungsgebiet und Förderprogramme
Das Gebiet ist Teil des Sanierungsgebietes „Innenstadt-Ost" mit Fördermitteln des Landes (Programm Sozialer Zusammenhalt, SZP, bis 30.04.2026). Umfassende Sanierungsmaßnahmen an Gebäuden können mit bis zu 35% der Baukosten gefördert werden (maximal 70.000–100.000 Euro).
Parallel läuft das Innenstadtprogramm „ZIZ" mit Fokus auf Vernetzung, Reduktion von Verkehrsbarrieren und Aktivierung von Leerständen.
Fazit: Spannungsfeld zwischen Optimismus und Fundamentalkritik
Die Innenstadtentwicklung-Ost steht exemplarisch für ein Spannungsfeld zwischen pragmatischer Stadtentwicklung und fundamentalen Fragen von Stadtidentität:
| Perspektive | Position |
|---|---|
| Befürwortung | Moderne Mischnutzung, Wohnungsbau im Zentrum, ökonomische Logik des Großprojekts, schnelle sichtbare Ergebnisse |
| Kritik | Verlust von authentischer Nachkriegsmoderne, Wiederholung der Fehler der 1950er Jahre, fehlende kleine iterative Prozesse, Pseudo-Modernität statt echter Innovation |
Dezember 2025 zeigt zudem erste Risse in der bisherigen Einigkeit: Der Planungsausschuss lehnt Vorschläge ab, der FDP-Landeschef stellt Fragen zum Denkmalschutz, und Parallelen zu Leipzig – wo man einen anderen Weg ging – werden deutlich. Die Stadt steht vor der Entscheidung, ob der Ankauf des Technischen Rathauses 2028 tatsächlich beschlossen wird, und wie die verbleibenden Baufelder umgesetzt werden, insbesondere angesichts der Einsparungen bei Einzelhandelsflächen.